Wie es sich für eine ernste Unternehmung, wie es die Bildung nun mal ist, gehört, beginnt die Fahrt um 08.00 Uhr. Daran lässt sich trotz der berechtigten Einwände der Diskogänger, sie kämen erst gegen 04.00 Uhr nach Hause und hätten dann nur noch 2 h Zeit zum Schlafen, absolut nichts ändern. Um 18.00 Uhr nämlich muss der Bus wieder da sein, denn nächtliche Fahrten sind mit Kindern verboten. Angesichts der vielen unbeleuchteten Pferdewagen, der halb- oder ganz blinden Autoscheinwerfer, der sich immer wieder nahenden „schwankenden Gestalten“ (Goethe ist eben immer zitabel!) und anderer Unzulänglichkeiten der hiesigen Verkehrslage ist das allerdings nur verständlich. Außerdem hält es sowieso keiner länger in einem Bus aus, in dem mit dem Türenschließen die nicht abzustellende Berieselung durch die Exkursionsführerin beginnt. Die weiß von Kosmonauten zu berichten, die einst durch diese armselige Ansammlung nichtssagender Häuser gekommen sind, und von Sowjetheerführern, die hier Schlachten siegreich geschlagen haben (die anderen, die sie verloren, sind nicht so wichtig). Neben einem Haus, das im Dorf- Pseudorenaissance- Kitsch- Stil errichtet wurde und samt seiner schon abfallenden bunten Kachelage als typisch für den Baustil der 80er Jahre vorgestellt wird, steht am Brunnen ein Pferdewagen. Er bestätigt die Vermutung, dass die angelernten und immer noch nicht vergessenen Sowjetfloskeln von „modern eingerichteten Häusern, die die alten strohgedeckten Hütten verdrängt haben“ irgendwie nicht stimmen wollen. Sie passen heute weder zu dem Plumpsklo im Garten noch zu dem Brunnen vor dem Tore. Die bereits in der Welt herumgekommene junge Generation der Ukrainer stimmt jedenfalls ungeniert in das Gelächter ihrer westeuropäischen Gäste ein und weist diese auf die Ruinen deutscher MG- Nester und Bunker hin, die die Exkursionsführerin nicht erwähnt hatte. Da sie der wohlgemeinte Bitte, sich während der Busfahrt doch um Himmels Willen auf das Wichtigste zu beschränken, nicht nachkommen kann (weiß die Frau, was wichtig ist und was nicht und wenn ja, darf sie das schon wissen?). geht ihre Stimme im lauter werdenden Geräuschpegel im Bus unter. Das aufgebrachte Zischen des Biologielehrers dämpft dann die Stimmen, führt aber sonst nur dazu, dass die kids sich die Ohren zustöpseln und eindüsen. Auch der an sich geschichtsinteressierte Schreiber dieser Zeilen schaltete langsam ab und bemerkte nur noch, dass die Polen (fast 500 Jahre die Herrscher dieser Gegend) in den langen Tiraden der Führerin einfach nicht vorkommen wollen. Dafür hört er gerührt zu, wie die grauhaarige Dame voller Begeisterung erwähnt, in diesem Dorf habe Tschapajew während der Winterpause einen Brunnen gegraben. Hat er das? Irgendwie muss ich an Brecht und seine „Fragen eines lesenden Arbeiters“ denken: Wer baute das siebentorige Theben? Der Herrscher war’s jedenfalls nicht…
Ach ja, die Polen kamen dann doch noch vor. In Kamieniec- Podolski, der „Wartburg der Polen“ (siehe oben), erwähnte unsere Führerin, dass hier die „polnischen Feudalen den wackeren ukrainischen Volkshelden XY (?) gefangen gehalten hatten“, was mit einiger Logik darauf schließen lässt, dass sie also die Herren einer Burg waren, die sonst nur voll von Kosaken- und Türkengeschichte zu sein schien. Sei’s drum. Interessanter schon die Beobachtung, wie ungehalten die auf ernsthafte (Un)Bildungsvermittlung spezialisierte Dame auf das Ansinnen der 13 und 14jährigen reagierte, die partout Geschichte live erleben und einmal mit dem Bogen schießen wollten. Diese Zeitverschwendung angesichts der vielen vielen noch auszuhaltenden Erörterungen über den Süd- und den Nordturm, das Kommandantenhaus und den Brunnen etc. brachte sie an den Rand eines hysterischen Anfalls. Sie kommandierte im ganz ganz alten Stil, aber es nutzte nichts. Die kids standen Schlange beim Bogenschießen und wollten ein jedes noch ein Bild von der Freundin oder dem Freund haben. Je größer das Vergnügen und endlich der Spaß der jungen Leute wurde, umso verzweifelter kämpfte die eiserne Lady des postsowjetischen Bildungsterrorismus um ihre historische Mission. Und scheiterte an der modernen Spaßgesellschaft...
Von da an war sie verbittert und nicht mal mit dem Wodka zufrieden zu stellen, den ihr der deutsche Delegationsleiter in urrussischer Weise unterzujubeln verstand: In Chotyn übten wir alle brav das Trinken von „sto gramm“ von der Handoberfläche (ohne Zuhilfenahme der anderen Hand) und das gekonnte Auffangen des nach vollzogenem Ritual in die Luft geworfenen Glases. Gekonnt? Na ja, meins ist zerbrochen…
So ging dann die Fahrt lustig zu Ende. Beim Aussteigen war die Freude der vermeintlichen Objekte pädagogisch- patriotischer Erziehungsbemühungen, der „Sch… Bildung“ endlich entronnen zu sein, unüberhörbar. In den verordneten Applaus für den stattgehabten Genuss einer sich selbst enthobenen Bildungsdiktatur wollte niemand mehr einstimmen. Früher, meinte die Exkursionsführerin noch, war es eben besser und die Jugend noch begeisterungsfähig! Da blieb mir endgültig der Kloß im Halse stecken und ich musste – wie die anderen – bei der ausgelassenen Spontanparty im Park einen guten Schlucke auf den Schrecken nehmen, der mir fast die Luft genommen hat. Gott sei Dank nahm die begeisterte Jugend darauf keine Rücksicht. Sie hatte längst alles vergessen und sang zur Gitarre, sammelte Holz für das Feuer und küsste sich ohne jeden Gedanken an Tschapajews Brunnen…