Eine andere „Not“ ist sicher die der Identität. Bulgakow (Bulhakov auf Ukrainisch) hat Jahre seines Lebens in Kiew verbracht, zählt aber doch als Russe, weil er auch in Moskau war und überdies – Hauptkriterium – Russisch schrieb. Gogol (Hohol) ist wenigstens seiner historischen ukrainischen Motive wegen, sein Wohnort liegt in der Nähe von Mirgorod, also auf dem Weg von Kiew nach Charkiv, zugelassen. Aber auch Repin, der ebenfalls bei Charkiv geboren und in Finnland gestorben ist (dort sollen sie ihm sogar ein eigenes Museum gewidmet haben!) gilt hier als „Russe“. Noch schlimmer trifft es Kandinsky, der mit einer ganz kleinen und nun wirklich leicht zu übersehenden Gedenktafel in Odessa geehrt wird, denn der gilt nicht einmal als Russe. Der ist „Jude“ und also eigentlich so etwas wie eine nationale Schande. Und wenn die heutige Ukraine sich lauthals von der „kommunistischen Zeit“ (wenigstens im Westen oft verunglimpft als Kommunofaschismus- wobei der Wortteil „Faschismus“ weniger anrüchig ist) abwendet, so teilt der arg volkstümelnde Kunstgeschmack mit Karpatenglühn und röhrendem Hirsch (der in Wirklichkeit längst gegessen, also ausgestorben ist) mit der weiland Realismus- Propaganda immer noch den alten Hass auf den Modernismus und die „Dekadenz“. Indem man so all die Großen, die aus Gründen der Bildung und des Anschlusses an die herrschende und als attraktiv empfundene russische Kultur eben Russisch sprachen und schrieben, aus der eigenen Geschichte ausgrenzt, bleibt man mit den Provinzblüten der tümelnden Dorfprosa unter sich. Halb nur bewusst, aber in der Hypertrophierung des Gottes Tschewtschenko und der unermüdlichen Propaganda der Weltgeltung von Olga Kobylanska (nichts gegen diese verdienstvolle Frau!), die immerhin aus der Stadt Eminescus, Celans, Ausländers, Mangers und Steinbargs stammt, also aus Chernowitz!, immer präsent ist der Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Puschkins, Tolstois und Dostojewskijs…
Wie dem abhelfen? Immer wenn es einem Volk in der Frühphase seiner nationalen Konsolidierung an einer eigenen nennenswerten Geschichte mangelt, kommt ein unermüdlich nach Ersatz suchender Historismus ins Spiel. Wie viele Geschichtslügen der so transportiert, darüber will ich mich hier nicht auslassen, die Deutschen haben mit ihrer Herrmann- Schlacht ein hübsches Beispiel vor Augen und sollten nur mildtätig lächeln, wenn sie hören, dass der populärste Ukrainer (jüngst erkoren) ein Fürst der Kiewer Rus ist; mir geht es vielmehr um die eigenartige Architektur in einem Land, das immerhin mit dem Gasprom- Gebäude in Charkiv ein großartiges und bis heute lebendiges Monument moderner Architektur der 20er Jahre vorzuweisen hat! Im Privaten drückt sich das in einer stillosen Suche nach Vorbildern aus, die meist irgendwo zwischen Versailles und mini- mundus, Legoland und „kleinem Erzgebirge“ in ein Schlösschen mündet, dessen Erkerchen und Winkelchen spätere Dachreparaturen eher früher als später wahrscheinlich machen. Im Rahmen einer Hauptstadt sieht das natürlich anders aus und wird Historismus pur, etwa so, wie die Polen nach 1945 Warszawa im historischen Stil wieder aufbauten. Im Falle von Kiew ging es zuerst um die Wiedererrichtung der von Stalin geschleiften oder untern seiner Nachfolgern als Warenlager u.ä. missbrauchten Kirchen, deren Substanz eigentlich kaum zu retten war. Hinzu trat der Neuaufbau der Kirche, in der Tschewtschenko (siehe oben) vor seiner Reise gebetet hat, der Kirche, die als älteste im Stadtteil Podil nach alten Stichen rekonstruiert wurde usw. Neu ist der Versuch, den Reichen ein ganzes Stadtviertel zu schenken (äh, die müssen die Wohnungen natürlich kaufen, die „Armen“!), in dem sich der (Pseudo)Jugendstil Kiewer Prägung mit den Vorstellungen von „alten Gassen“ mit Weinhandlungen von Weltformat etc. verbindet. Immerhin bewahrheitet sich hier meine Voraussage, dass der wirkliche Reichtum sich bald nicht mehr in den 26geschossigen Wohnburgen zu Hause fühlen, sondern dass er nach individuelleren Lösungen suchen und also die Altstadtteile für sich entdecken wird. Da das Bauen in der Altstadt mühsam ist und das wirklich Alte (noch) kein Prestige besitzt, mag sich das Pseudo- Alte heute gut verkaufen. Es ist ja fast alles noch „Pseudo“ in der Ukraine! Aber endlich wird kein Weg an Podil und Petschersk vorbei führen, wo heute Wohnungen, deren Innenleben in Sachen Installationen und so dem hier schon oft geschilderten „meiner“ Czernowitzer Wohnung sehr nahe kommt, zu Preisen zwischen 1800 und 4000 $ monatlich vermietet werden. Wo heute Diplomaten und Mitarbeiter des Goethe- Instituts wohnen, werden später die wirklich Reichen ihre (Stadt)Häuser haben. Oder doch nicht? Einen Vorteil haben die schmalen Pseudo- Gassen immerhin: Sie sind leicht zu kontrollieren und im Notfall durch Barrikaden abzusperren, ich meine dann, wenn die Teilnehmer an den kommenden Hungerrevolten mal wieder „Revolution“ spielen. Oder werden die sich doch still vor ihren (vom Staat statt der dringend notwendigen Altersheime, Obdachlosenasyle, AIDS- Krankenhäuser und Entziehungsanstalten finanzierten) Kirchenneubauten dem Schicksal ergeben? Wer weiß …
Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...
Montag, 9. Juni 2008
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