Am 08. 09. geht es abends dann los. 18 ukrainische Schülerinnen und Schüler und eine Betreuerin brechen auf, dem März- Projekt einen zweiten Teil in Stralsund bzw. Sellin folgen zu lassen. Im Zug ist es wie erwartet ziemlich warm. Die Gradzahl steigt in meinem Abteil noch an, denn hier versammeln sich diejenigen, die der "harte Kern" sein wollen. Ich akzeptiere, als ich verstehe, worauf es hinaus läuft. Besser sie trinken in meinem Beisein, als heimlich, denke ich, und lasse mir auch einen Wodka einschenken. Gott sei Dank bin ich ja nicht mehr Lehrer an der Schule! Die Kontrolle ist zwar gut gemeint, aber wirkungslos, denn ich überschätze die Trinkfestigkeit der Kleinen wie sie selbst. Noch ehe ich mich versehe, hat Julia einen mächtigen und Viktor einen ordentlichen Schwips. Sie reden plötzlich lauter und dann wird Julia auch noch schlecht. Pottwarmer Alkohol in einem tropischen Raum- das konnte nicht gut gehen! Ohne Proteste geht das Mädchen dann schlafen und die anderen kümmern sich um sie. Trotzdem ist es nicht einfach Solidarität, sondern eher ein Schutzreflex. Das ist eben so, wenn man trinkt, und alle wissen, was dann zu tun ist. Das nächste Mal könnte man selbst betroffen sein. Vorwürfe gibt es nicht und schlechtes Gewissen ist den Betroffenen fremd. Saufen als Kultur (denken sie jedenfalls). Ich lasse die Leute bis nachts um 02.00 auf, denn eher bekäme ich sie doch nicht zur Ruhe. Dann sind sie müde und auch diszipliniert. Weiter keinen Ärger bis nachts um 04.00, als es mörderisch kracht. Roman ist bei dem Versuch, aus dem Bett zu klettern, von seiner Pritsche in den Mittelgang gestürzt. Kein Alkohol- Schlaftrunkenheit! Gott sei Dank ist der schwere Kerl sportlich und tut sich nichts. Das hätte auch das Ende der Reise mit einem Querschnittsgelähmten bedeuten können. Kure Zeit später will/ muss Kolja auf die Toilette, aber die Tür geht nicht auf. Es kostet uns an die 20 min, ehe sie sich unvermutet öffnen lässt. An Schlaf ist nun nicht mehr zu denken. Ich wasche mich, zum Glück, denn eine Stunde vor Erreichen des Bahnhofs schließt der Zugbegleiter die Toilette zu und ist um nichts in der Welt (oder doch gegen Dollar?) bereit, das Klo noch einmal zu öffnen. Das Lamento hält sich aber in Grenzen. Dennoch: Langsam begreife ich, was Masochismus ist - eine Schülerreise mit 16- Jährigen!
Apropos Masochismus: Es tut sich was in der Ukraine! Bisher tat man sich schwer mit nichtukrainischen berühmten Bürgern von Lemberg- Lwow- Lviv. Als einer der ersten konnte der Pole Stanislaw Lem ("Das hohe Schloss"- Autobiografie aus der Lwower Zeit) Boden gut machen und in die Reden zur Schuljahreseröffnung an unserem dortigen DSD- Gymnasium Eingang finden als "berühmter Absolvent". Das blieb dem Herren Sacher- Masoch bisher verwehrt, obwohl Kollege Everding dran arbeitet, wie er sagt ;-) Schneller war ein Restaurant, von dem ich vergessen habe, ob es etwa im Geburtshaus von Masoch eröffnet wurde. Aber das Gebäude muss so oder so etwas mit dem berühmten Sohn der Stadt zu tun haben, denn neben der Tür kündet eine Tafel von den Lebensdaten und vor dem Eingang steht der Meister höchstselbst in Form eines Bronzedenkmals. Beim Fotografieren ging mir durch den Kopf, was man hoffen kann, wenn man sein Leben einer Frau weiht, wohl wissend, dass alles - besonders die Liebe - endlich ist und letzteres Gefühl oft umschlägt in sein Gegenteil. "Masochismus", scheint mir, bezeichnet weniger einen psychischen Affekt, als vielmehr eine prinzipielle Unfähigkeit des Menschen, den Erfahrungen anderer (und auch den eigenen) Glauben zu schenken. "Masochismus" als quasi philosophische Haltung bezeichnet dann dieses immer wieder zu hörende "Mir- passiert- das Nicht". Woher nehmen die Menschen diesen der Dummheit so ähnlichen Optimismus, immer sich selbst als die Ausnahme von der Regel zu betrachten?
Meine Euphorie, noch einmal mit "meinen Kleinen" auf Reisen zu sein, weicht jedenfalls schon bald einem sanften "Übergang" in Frustration, dem Heraufdämmern eines Begriffs kommender Schlalosigkeit und pädagogischer Überforderung. Das passiert während des Wartens auf den Bus, ein Vorgang, der in der Ukraine ja immer auch mit der bangen Frage verbunden ist, ob der überhaupt kommt und ob es, wenn er da ist, auch die versprochenen Plätze gibt. Als der Bus endlich mit zweistündiger Verspätung ankommt, ist zwar exakt die gebuchte Anzahl an Plätzen frei und der Busfahrer sorgt auf meine energische Bitte hin auch dafür, dass die Schüler zusammen sitzen können und die anderen Fahrgäste nach vorne rücken, aber es fehlt Lesjas Rucksack mit dem neuen Fotoapparat, dem unverzichtbaren Handy und 150 Euro Taschengeld. Ich hab zwar meine Augen überall gehabt, aber in der Hektik des Aufbruchs mag sie den Rucksack vergessen haben und als wir ihn suchten, war er nicht mehr da. Dasselbe sollte Aljona einen Tag später passieren- diesmal aber auf dem ZOB in Berlin.
Im Bus zog schnell Ruhe ein. Die kids waren übermüdet vom Schlafmangel der letzten Nacht und dem Tag in Lviv. Bloß ich konnte nicht schlafen und musste mir, ob ich wollte oder nicht, einen der berüchtigten russischen Krimis ansehen, in denen pro Minute mehr Blut als in einem ganzen Hollywood- Halbjahr fließt und in dem die obligate Vergewaltigungsszene jeden einschlägigen Porno in den Schatten stellt. Wie kann man nur groß und ein vernünftiger Menschen werden, wenn man mit solchem Dreck im Gehirn aufwächst? Man kann, indem man abstumpft. Außer mir sah niemand hin. War da noch etwas? Ach ja, die immer wieder für Erheiterung sorgende Prüfungsfrage, ob man Gewalt im Fernsehen verbieten solle. Ob die Deutschen angesichts ihres Fernsehprogramms überhaupt wissen, was "Gewalt in den Medien" ist? Ich beweifle es.
Ein wenig Aufmerksamkeit gab es noch, als der Busfahrer zur Sammlung von 5 Euro pro (erwachsener) Person aufrief, um mit der Summe den ukrainischen Zoll milde zu stimmen. Es gab Diskussionen unter den Fahrgästen, die zunächst mehrheitlich ablehnten. Erst nach der 3. Stunde Wartezeit brachte die lautstark vorgebrachte Schimpfkanonade eines erfahrenen Reisenden die übrigen dau, den Beutel zu öffnen.Und so kamen wir innerhalb der nächsten Stunde über die Grenze, wo wir auf polnischer Seite noch einmal 1 Stunde standen, dieweil der Bus vor uns eine Platzrunde in die Ukraine zurück drehte.
Bis Berlin gab es dann nur noch ukrainetypische Anekdötchen, die aufzubauschen nicht angebracht scheint. Der Busfahrer fuhr wie ein Blöder und machte nur einmal Pause, als er der Maut wegen ohnehin am Terminal anhalten musste. Vielleicht saß er schon seit Kiew am Steuer. Von Lviv bis Berlin (23.00- 16.00) fuhr er jedenfalls durch. Gegen Morgen sah ich seinen Kopf des öfteren aus dem Spiegel verschwinden, ein Zeichen dafür, dass er auf das Lenkrad gesunken war. Ich betete, falls ein Atheist das kann, zu allen Schutzengeln, und siehe, sie halfen mir. An Pause dachte der Fahrer dennoch nicht. Er wollte um 14.00 Uhr in Berlin sein, wie er auf Anfrage verkündete. Ich bestellte also unseren Anschlussbus zu um 16.00 Uhr. Das sollte auf jeden Fall klappen, denn obwohl der Fahrer kurz nach der Auskunft von der Autobahn abbog und eine Tankstelle anfuhr, verkündete er dort, es sei Eile auf der Toilette geboten, denn je länger wir in Polen blieben, um so später kämen wir nach Berlin. Gut. Merkwürig nur, dass alsbald Schüler kamen und mich fragten, wo der Bus sei. Nachdem er eine geschlagene halbe Stunde nicht aufgetaucht war, ging ich ihn suchen und fand ihn vor eine Waschanlage. Der Fahrer schlief dort den Schlaf des Gerechten und ich ließ ihn. Erst nach 1,5 h plante ich das Ultimatum - unser Anschluss- Bus, ursprünglich erst zu 18.00 Uhr bestellt, erwartete uns nun schon um 16.00 Uhr in Berlin (!) - musste aber nicht aktiv werden. Plötzlich schob sich der Bus durch die Waschanlage und wir kamen fast auf die Minute genau zwar nicht um 14.00, aber immerhin um 16.00 Uhr in Berlin an. Der Fahrer fuhr übrigens noch bis Koblenz (über Köln) und falls irgendein Autobahnpolizist diesen Blogbeitrag liest, bin ich auf Nachfrage ausnahmsweise gerne bereit, den Namen des Busunternehmens preis zu geben.
Der Stralsunder Fahrer war dann nett. Er zeigte ein bisschen Berlin vor, war bereit, uns eine Stunde am Brandenburger Tor zu gönnen, und hielt auch noch einmal an einem Supermarkt, wo die kids einkaufen konnten. Groß war das Staunen, als er dann auf der Autobahn eine halbe Stunde Pause machte und erklärte, dass er alle 4,5 h eine solche Pause machen müsse, sonst sei er seinen Job los. Noch mehr staunten die Kleinen nur über den Satz, dass die eingebaute Technik die Pause nur als solche aufzeichne, wenn der Bus mindestens 31 min gestanden habe! Ja, dieses Staunen über deutsche Regeln kam dann noch öfter vor. Hübscher Kontrast für mich.
In Stralsund nahmen wir die deutschen Projektpartner an Bord, was ein großes Hallo mit sich brachte. In Sellin verschwanden dann aber doch alle schnell in den Betten. Nicht mal die um Mitternacht noch dampfende Gulaschsuppe wurde alle! Dank an das Personal des ASB- Feriencamps Sellin! So fürsorglich, wie wir empfangen wurden, war die Betreuung die ganze Zeit über. Und das alles durchaus nicht mit "professioneller Höflichkeit", sondern mit echter Herzlichkeit. Schön zu wissen, dass es das noch gibt!
Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...
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