Also, Friedhöfe haben hier schon was. Es gibt viele, die untergegangene Besiedlungskulturen dokumentieren (Polen, Deutsche, Armenier usw.), andere, die – tragischerweise – den Untergang ganzer Völkerschaften anzeigen (Juden). Und als historische „Dokumente“ sind sie selbst wieder lesbar als Zeichen des Umgangs mit Gedächtnisorten, mithin dem Gedenken schlechthin.
Die jüdischen Friedhöfe verwahrlosen und zeigen an, dass sich kaum noch jemand um die Gräber kümmert, kümmern will oder kümmern kann. Im Falle von Czernowitz, wo etwa 70 000 Grablegen eine Nekropole von einigem kulturgeschichtlichen Rang anzeigen, ist die Tragik fassbar, aber doch auch unverständlich. Wenig Geld wäre vonnöten, die Wege begehbar zu halten und die Friedhofssynagoge (Begräbnishalle) in Stand zu setzen. Sollten das die (meist nach Israel ausgewanderten) Hinterbliebenen nicht aufbringen können? Auch institutionalisierte Träger von Gedächtniskultur scheinen sich um den hiesigen Friedhof nicht zu kümmern. Er ist zwar als „historisch“ und schützenswert ausgewiesen, aber die allerorts spürbaren Versuche, die Stadt zu ihrem 600jährigen Jubiläum auf Vordermann zu bringen, gingen bisher an den eingestürzten Mauern und überwucherten Gräber der einstigen Mitbewohner vorbei. Juden gehören offensichtlich nicht einmal als historische Tatsache zur Geschichte der Ukraine. In der Schule feiert man Bohdan Chmelnitzky als so etwas wie einen Staatsgründer (welchen Staates?); dass in den Kosakenaufständen der erste Genozid an Juden verübt wurde, ist unbekannt. Unbehaglich ist das Thema allemal, denn wenn man jemanden daraufhin anspricht, kommt oft Antisemitisches zu Tage. Gegen Juden direkt hat dabei kaum jemand etwas, aber hierher gehören sie doch nicht (sollen nach Israel gehen). Oder man ist eben einfach stolz darauf, keinen Juden in der Familie zu haben, und hat man einen, dann ist es sicher der davongelaufene Schwiegersohn (typisch Jude!). Anders als in Deutschland, und vielleicht auch anders als man es sich angesichts des viel geschmähten Antisemitismus in der Sowjetunion vorstellt, funktionierte die Integration der Juden auf den öffentlichen Friedhöfen zumindest in Chernivci allerdings problemlos. Angesichts der vielen jüdischen Namen, der hebräischen Schriftzeichen, der Davidsterne und bisweilen auch der jiddischer Verszeilen (siehe Foto) auf den Gräbern offensichtlich stadtbekannter und daher auch etwas abgesondert beigesetzter Persönlichkeiten (Theaterleute, Mediziner, Musiker, Professoren usw,) fragt man sich schon, ob das zu ihren Lebzeiten ebenso selbstverständlich war. Vielleicht ja, denn auf meine Frage, ob mein verehrter Kollege Zuckermann wegen seines Namens nicht manchmal Probleme mit den Schülern oder Eltern hätte, antwortete die stellvertretende Direktorin Frau Banar im Brustton der Überzeugung: „Felix ein Jude? Ach was, das ist doch unser Felix!“ Wobei die Betonung auf „unser“ lag…
Die öffentlichen Friedhöfe also. Auffällig und ungewohnt für deutsche Augen sind die in die meisten Grabsteine eingelassenen Fotos. Oft finden sich neben den Grablegen auch Bänke und Tische, die am Tag des Totengedenkens genutzt werden, an dem man sozusagen noch einmal mit den Toten isst und trinkt und sich (und ihnen) das Neueste erzählt. Waren die Grablegen und die Steine zu früheren Zeiten sichtbar standardisiert und wenigstens in der Größe von eher schlichtem Format, so treibt die neue Freiheit heute auch hier merkwürdige Blüten der Geschmacklosigkeit hervor. Bänke und Tische sind nun aus Granit oder Marmor und gehören zu einem Ensemble, das mal einem griechischen Arkadengang ähnelt, mal von Einfriedungen im Stile der Renaissance umgeben und gemessen an der Bedeutung der begrabenen Person im Leben auf jedem Fall zu gewaltig daher kommt. Oft treten einem nun die hier Bestatteten in Lebensgröße (als Turner am Reck oder als 16jährige Ballerina in Pose) entgegen oder es findet sich auf der Rückseite der Steine ein dezenter Hinweis auf die Todesursache (den Lebensinhalt?) des Verblichenen. Oder was sonst soll der in einer Serpentine kurvende Mercedes zu bedeuten haben?
Ein besonderes Kapitel sind aber die Kindergräber. Wie geht man mit solch einem Verlust um? Kann man es ertragen, bei jedem Friedhofsbesuch an ein lachendes Gesicht erinnert zu werden? Offensichtlich ja, denn nicht selten finden sich Skulpturen, die auch die Kleinen in ihrer ganzen Zartheit und Zerbrechlichkeit (Zerbrochenheit?) darstellen. Dabei ist das alles ziemlich bunt und meist gar nicht sehr feierlich, jedenfalls überdecken die vielen leuchtenden Plastikblumen auf den Plastikkränzen jeden aufkommenden Anschein von Düsternis. Schwarze Schleifen finden sich auf frischen Gräbern; auf denen älteren Datums leuchtet ein mehr oder weniger neues Kranzimitat mit roten, blauen, gelben oder weißen Blumen, oft in den Nationalfarben blau- gelb. Die sind im Straßenbild und auch auf den Friedhöfen bzw. rundherum als Farbgebung der Bänke, der Buswartehäuschen, der Zäune oder Eingangstore so allgegenwärtig, dass man meinen könnte, die Regierung habe einen Rabatt für himmelblau und quittegelb verkündet. Möglich wär’s immerhin…
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen