Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Montag, 31. März 2008

Germanen im „wilden Feld“

Am 14. 03. fielen sie in Kiew ein und erlebten gleich den Streik der Marschrutka- Fahrer. Sie, das waren 10 Stralsunder Schüler im Alter von 13 bis 18 Jahren und ihre zwei Betreuer, der Kameramann und Medienpädagoge Stefan Koeck und Drehbuchautor Michael Petrowitz. Gefördert durch die Robert- Bosch- Stiftung („Junge Wege für Europa“) stand ein gemeinsam von ukrainischen und deutschen Schülern zu realisierendes Filmprojekt („Wer war Herr L.?“) an. Das Ganze begann mit dem trotz Streik geglückten Transfer vom Flugplatz zum Bahnhof. Im Zug fanden es die Deutschen schon interessant, wie eine Zugtoilette in der Ukraine riecht und klebt. Dabei war die nicht mal das Übelste, was man in dieser Hinsicht hier erleben kann. Eher entsprach sie dem nach Maßgabe ihres Alters und der Konstruktionsweise möglichen Standard. Dennoch blieb das Erlebnis prägend und wurde – erfrischt durch die Holzbuden mit „Sch… loch“, die auf dem Gelände des Burgmuseums Chotyn anlässlich einer in der folgenden Woche durchgeführten Exkursion zu bestaunen waren – auf dem Bergfest auch noch den pikiert dreinschauenden Schuloffiziellen des Gymnasiums Nr. 1 Czernowitz unter die Nase gerieben. Die Schüler hatten halt die Aufforderung, ehrlich über gute und schlechte Seiten zu reden, allzu vertrauensvoll Folge geleistet. Als interkulturelle Differenz wurde der für hiesige Verhältnisse klassische faux pas erst begriffen, als einer der Schüler (Stefan, 14) entnervt nachfragte, warum die ukrainischen Gastgeber immer alles gut fänden, was die Deutschen vorschlagen und tun. Ja, warum? Das eben ist eine Form von Höflichkeit, die – den uralten Ritualen der Gastfreundschaft gehorchend – Kritik nicht als Hilfe oder Denkanstoß, sondern nur als Beleidigung begreifen kann. Immerhin war die Situation gerettet, als die deutschen Schüler ehrlich begeistert in den Applaus einstimmten, den der Direktor mit seinem Satz, über die Toiletten, die man mit der Zeit verbessern würde, nicht die Herzlichkeit zu vergessen, mit der die Gäste in den Familien empfangen worden seien. Wohl war. Und wer es an diesem Tag nicht glaubte, dem wurde es beim Abschied vor Augen gestellt. Am 28. 03. standen deutschen Mädchen und Jungs die Tränen in den Augen und an der Seite ihrer Kinder schluchzte manch Gastmutter gerührt ins Taschentuch.

Ende gut, alles gut – da lässt es sich leichter über Erlebnisse reden, die während des Projekts auf Lernprozesse hinwiesen, wie sie für eben solche Arbeitsformen typisch sind. Zu den gesammelten Fragen, die „Fremdheit“ dokumentieren, gehörten auf Seite der deutschen Schüler: „Warum sehen die Mädchen hier immer so aus, als wenn sie zu einer Party gehen, wo sie Jungs anmachen wollen?“ – „Warum tragen hier Mädchen und Jungen sogar in der dunklen Disko Sonnenbrillen?“ – „Warum schnallen Autofahrer in der Ukraine nicht mal Kleinkinder an?“ – „Warum nimmt man so wenig Rücksicht auf Fußgänger, besonders auf Alte und Gebrechliche?“ usw. Dafür fand es der schon zitierte Schüler Stefan (14) „echt cool“, dass er sich hier gar nicht zwischen drei Freundinnen entscheiden sollte, sondern ihm alle drei die Treue hielten und mit den unter 14- und 15jährigen üblichen Liebesbeweisen nicht geizten ;-). Und David (16), dessen Aufzug an die Montur der Bundeswehr, in die er nach der Schule als Berufssoldat eintreten will, erinnerte, reagierte positiv verstört darauf, dass „man hier wegen seiner Klamotten und so gar nicht links liegen gelassen wird, weil alle alles gemeinsam machen“. Wenn das mit dem „Bund“ nicht klappt, träumte David weiter, könnte er ja hier ein Haus kaufen und leben. Auf jeden Fall will er im Sommer auf eigene Faust wieder kommen. Gastfreunde findet er auf jeden Fall!

Ist es nicht dieses Gemeinschaftsgefühl, das deutschen Jugendlichen ganz offensichtlich fehlt? „Clique“ ist eben nicht gleich „Clique“, auch wenn die einschlägigen Aufgabenstellungen und Erklärungen in den Lehrbüchern für Deutsch als Fremdsprache solches suggerieren: Es sind das beinahe vollständige Fehlen von gewaltbasierten Über- bzw. Unterordnungsritualen, die, verbunden mit einer (nicht nur – aber auch – wodkaseligen) Natürlichkeit und Offenheit, auf die misstrauischen und stets abwehrbereiten deutschen Jugendlichen überrumpelnd wirkten. „Sonnebrille“ und „Minirock“, „Wodkaflasche“ und „Toilette“ wurden so zu Begriffen, die exotisch blieben, aber ihren Schrecken verloren.

Ähnliches gilt für die ukrainische Seite, die anfangs irritiert auf das inhomogene (Realschule, Gymnasium) Konglomerat reagierte, das ihnen da als „Gäste“ entgegentrat, dann aber alles tat, um die beschriebenen Reaktionen der deutschen Schüler hervorzurufen. „Müssen die Mädchen sich so unmodisch geben?“ – „Warum nimmt David nicht mal in der Schule, wo doch ältere Lehrerinnen an ihm vorbei gehen, die Mütze ab?“ – „Sind die Toiletten wirklich so wichtig?“ – „Gibt es immer nur Schlechtes in der Ukraine?“ – das waren einige Fragen der Ukrainer. Sie blieben im Raum stehen, wurden nicht „ausdiskutiert“ (wie im gründlichen Deutschland üblich). Warum? Eigentlich maß man ihnen gar keine wirkliche Relevanz zu: Gast ist Gast! So war interessanter, was die ukrainischen Schüler in der gemeinsamen Arbeit über ihr Land erfuhren. Sie erlebten niedergeschlagen, dass man selbst im Rahmen so „wichtiger“ (!) Recherchen und in Begleitung deutscher Schüler als Schüler in Museen, Bibliotheken und Archiven einfach nicht zählt. Da hatte sich Yuliya (17) gründlich mit dem Namenspatron der hiesigen Universität Jurij Fedkovich auseinandergesetzt und wollte nun im Fedkovich- Museum die Führung übernehmen. Wir schafften es, aber erst nach 20minütiger Wartezeit, ewigen Diskussionen mit dem Aufsichtspersonal und nur mit Hilfe der eigens dafür herbei geholten Chef- Administratorin, die gnädig die Erlaubnis gab, ausnahmsweise mal ohne übersetzte ukrainische Führung das Museum betreten zu dürfen. Yuliya hat ihre Sache souverän gemacht und gezeigt, was möglich wäre, wenn… Alle anderen Archiv- und Bibliothekstüren blieben Schülern ohne Antragstellung durch den Direktor, Bestätigung durch städtisches und regionales Schulamt und Zustimmung des jeweiligen Leiters der Institution (was mindestens eine Woche gedauert hätte) sowohl für Recherchen als auch für Fotos oder einfach nur für Fragen an das Personal verschlossen. Frustrierend auch die Vorträge der Exkursionsleiter und eines Historikers, die vor lauter ukrainischem (Pseudo)Patriotismus nie zu dem kamen, was die Schüler im Rahmen der Projektaufgabe (sie österreichisch- rumänische Zeit) interessieren sollte. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Reiseleiterin und Führerin durch die zwei polnischen Fahnenburgen Chotyn und Kamieniec- Podolski (in ihrer Bedeutung als Erinnerungsort für die Polen nur mit dem Symbolwert der Wartburg für die Deutschen zu vergleichen) es fertig brachte, in 12 Stunden von den Polen, die hier 500 Jahre herrschten und lebten, nicht ein einziges Mal zu sprechen! Dabei waren die Schüler längst klüger. Selbst die „zähesten“ hatten spätestens zu Beginn der zweiten Woche aufgehört, ihre älteren oder greisen Interviewpartner nach der besonderen Rolle der Ukrainer in der Stadt und Umgebung zu fragen. Sie nahmen die Selbstverständlichkeit an, mit der etwa der 95jährige Joseph Schlamp von seinen polnischen, ukrainischen, rumänischen und jüdischen Freunden sprach und lernten die Unwilligkeit verstehen, mit der er eine „besondere Rolle“ irgendeiner nationalen Gruppe kategorisch ablehnte. Nur in Fragen der Sprache und Kultur blieb er hart. Wie für alle anderen aus seiner Altersgruppe stand die Dominanz der deutsch- österreichischen Sprache und Kultur außer Frage. Wie sagte denn auch Olha (15) auf der Heimfahrt von Kiew nach Czernowitz ganz richtig: „Bisher dachte ich, ich hätte immer fleißig Deutsch gelernt und könnte sprechen. Bei dem Projekt habe ich erfahren, wie viele Wörter ich gar nicht verstehe. Ich muss besser werden. Und außerdem lebe ich ja eigentlich irgendwie auch in Deutschland – jedenfalls immer dann, wenn ich an „Czernowitz“ denke und nicht von meinem „Chernivci“ rede.“ Noch Fragen? Ein völlig entnervter, von Konzeptions- (was für ein Film?), Koordinations- (wie bindet man 30 Schüler in ein Projekt ein, ohne dass jemand ohne Aufgabe rum sitzt und die Lust verliert?), Organisations- (kein Strom im Saal, Quittungen notwendig, aber „nicht ortsüblich“ usw.) und Betreuungsaufgaben (auch „meine Gäste“ sprachen kein Russisch, hielten sich – jung wie sie waren – aber gerne bis spät in die Nacht bei russischen Ess- und Trinksitten in den einschlägigen Etablissements auf…) geschlauchter Projektleiter- MOE ist trotz alledem (oder wegen des Ganzen) glücklich und im Ganzen zufrieden!

P.S.: Bald hätte ich es vergessen: Wenn vorher der Lieblingsspruch ukrainischer Mädchen, die einen Fernseher einschalten sollen, lautete: "Von Technik verstehe ich nichts", dann haben wir jetzt in Chernivci gleich eine ganze Reihe begeisterter Kamerafrauen "produziert"!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

so weit ist es gekommen, dass ich mich in die virtuelle realität begeben muss, um etwas neues von dir zu erfahren...
deine treue leserin aus greifswald