Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Donnerstag, 24. April 2008

Wenn einer eine Reise (mit der Eisenbahn) tut…

Und dann wären da noch die ukrainischen Eisenbahnen… Eigentlich war das System einmal ganz praktisch: Egal, wohin man fährt, man fährt immer die Nacht durch und erreicht prinzipiell erst morgens den Zielbahnhof. So sparte (und spart) man Hotel- Übernachtungen und die damit verbundenen Kosten. Angesichts der Tatsache, dass die Ukrainer erst seit kurzem Fahrkarten ohne Vorlage ihres Passes kaufen und einen Zug auch ohne Pass besteigen dürfen – Nachwehen fehlender Bewegungs- und Ansiedlungsfreiheit, wie sie in Westeuropa schon vor 300 Jahren auf den Tagesordnungen bürgerlicher Revolutionen stand – genügten die Schlafwagenzüge dem Reiseaufkommen früherer Zeiten. Für weniger ausgedehnte Reisen gab und gibt es ja noch die „Elektritschka“, ein Zug, der ähnlich einem Personen(bummel)zug der guten alten Deutschen Reichsbahn funktioniert. Heute allerdings ist das System, ohnehin abgewirtschaftet, endgültig in der Krise: Fahrkarten, die erst 40 Tage vor Fahrtantritt ausgegeben werden, sind oft schon nach wenigen Tagen vergriffen oder von Spekulanten aufgekauft, die sie dann am Bahnsteig zu horrenden Preisen weiterverkaufen. Zeichen einer steigenden Aus- und Überlastung. Mobilität erreicht eben auch die Ukraine, die Zahl der Dienstreisen steigt, Klassenfahrten nehmen zu, der private Tourismus befindet sich im Aufwind. Dem stehen aber nur ein total überalterter Wagenpark und ein Schienennetz gegenüber, das jeder Beschreibung spottet. Ab 60 km/ h (schätze ich) steigt die Gefahr, bei ruckartigen Bewegungen des quietschenden und ächzenden Waggons von der oberen Pritsche geschleudert zu werden, erheblich an. Zum Glück fahren nur wenige Züge so schnell! Von Chernivci nach Kiew, ca. 500 km, braucht der Zug 16 Stunden – von 18.20 ab Chernivci bis 09.30 Uhr Ankunft in Kiew!

Steigen Sie also ein und begleiten Sie eine Gruppe deutscher Schüler auf ihrer Reise auf eben jener Strecke. Das Drama beginnt im ersten Akt auf dem Bahnsteig, wo so ein verwegener deutscher Held in Military- Klamotten, David (16), mit 4 Fahrkarten in der Hand den Waggon entert, derweilen seine Mitreisenden noch tränenüberströmt auf dem Bahnsteig stehen und Abschied nehmen. Ohne mit der Wimper zu zucken hat die Zugbegleiterin bzw. der Waggondrachen die Fahrkarten kontrolliert und den Störenfried ihrer Ruhe hineingelassen. Das kann sie nun mit den folgenden 2 Mädchen und dem zweiten Jungen, die zu David ins Abteil wollen, nicht machen, denn die haben ja keine Fahrkarten. Ok, einer geht in den Waggon und holt die Fahrkarten. Das geht nicht. Gut, wir schauen, wer Fahrkarten für diesen Waggon hat, doch, oh Schreck, David und die Seinen sind die einzigen in der Nummer 10. Da kann man nichts machen und der 2. Akt beginnt, denn der Drachen weicht nicht. Zum Glück versteht unser Military- Man das Affentheater vor seinem Fenster nicht und kommt an die Tür, um uns zu fragen, was los sei. So können wir ihm sagen, dass er die fehlenden Fahrkarten holen soll…

Warum hat der nicht einfach das Fenster geöffnet? Ja, warum? Dritter Akt und Schürzung des Knotens: Einfach darum, weil kein Fenster seines Waggons sich öffnen lässt. Angesichts der beruhigenden Hinweise, die Fenster nicht zu öffnen, da der Wagen klimatisiert sei, finden wir das auch nicht so schlimm. (Retardierendes Moment) Eine Stunde später ist es schlimm, denn ab 40 Grad in stickiger Luft, die Folgen kündigten sich durch Gehüstel und ein starkes Verlangen nach Wasser an (ein Speisewagen ist nicht da, obwohl es auf der Hinfahrt einen gab und sich einige drauf verlassen hatten), hört die Gemütlichkeit auf. Versuche, in unserem Waggon ein Fenster zu öffnen, führten Gott sei Dank zum Erfolg. Wir schienen gerettet. Nun, der Schein kann trügen. Vierter Akt: Mit wutverzerrtem Gesicht tauchte der Waggondrachen auf und schnaubte, es sei noch keine Saison für geöffnete Fenster, worauf sie das Fenster schloss. Freundliche Worte, Hinweise aus einen Asthmatiker, das Angebot, das Fenster sofort zu schließen, wenn einer der Mitreisenden sich darüber beschweren würde, fruchteten nicht. Der Gott der Zugbegleiter hatte eine Saison vorgesehen und die war so wenig erreicht wie der Zeitpunkt, an dem – egal wie warm oder kalt es draußen ist – die Heizung in den Häusern gnadenlos an- oder abgeschaltet wird. Wir ließen es uns eine Weile gefallen, ehe Stefan, der deutsche Gruppenleiter, zur Tat schritt. Ich hatte ihn gewarnt und – hierin schon ganz ein „gelernter Ukrainer“ – resigniert. Er aber, ein Germane, blond und blauäugig und nun besessen vom furor teutonicus, riss in seiner Verzweiflung das Fenster wieder auf, um nach Luft zu schnappen. Das Drama eilte seinem Höhepunkt zu, denn diesmal hatte der Dracula mit administrativen Vollmachten nur darauf gewartet, um – nicht ohne etwas von „verdammten Faschisten“ zu schreien – das inkriminierte Fenster sofort wieder zu schließen. Es würde „cholodno“ werden, kalt also. Im Fünften Akt stand nun der Germane mit funkelnden Augen vor dem Fleischberg, dessen einzige Macht die Autorität der Eisenbahnerjacke war, die es nun zu verteidigen galt. Die Stimme überschlug sich und in schrillem Diskant drohte sie, am nächsten Bahnhof die Miliz zu holen und uns aus dem Zug entfernen zu lassen. Hatte sie diese Macht? Ich fürchte ja, aber es war mir schon egal, zu grotesk schien das Ganze. So deutete ich – gleich der Hybris im antiken Drama – uneinsichtig einen frierenden Menschen an und fragte, ob ich das richtig verstehen würde: „Cholodno? Kalt? Hier?“ – „Ja, ja“, versicherte die Stimme, worauf ich nur das Theaterspiel fortsetzen und einen stark schwitzenden, nach Luft hechelnden Menschen darstellen konnte, der ihr zeigen sollte, wie heiß es in ihrer tropischen Hölle war. „Faschist!“, warf sie mir an den Kopf, was nicht eben für viel Fantasie und noch weniger für einen ausgedehnten Wortschatz sprach. „Und Sie? Heißen Sie nicht zufällig Josefa Wissarionova? Die Stalina?“, geiferte ich zurück. Das war zuviel! Dem Herzinfarkt nahe verließ sie das Kampffeld, und aus dem antiken Drama der Auflehnung der Helden gegen die Götter wurde ein bürgerliches Trauerspiel aus nicht mal mittleren, eher niedrigen Charakteren. Sie rief nicht die Miliz, sondern verschloss die Toilettentüren, so dass wir von nun an im Nachbarwaggon unser Glück versuchen mussten. Das nahmen die ukrainischen Mitreisenden endlich übel, nicht der Schaffnerin, sondern uns. Wie kann man nur so uneinsichtig sein und den Versuch wagen, gegen DIE ADMINISTRATION etwas ausrichten zu wollen? DAS hätten wir nun davon. Und sie schimpften weiter auf diese uneinsichtigen Westeuropäer, die – das sage ich – seit Beckett wissen sollten, was absurdes Theater ist…

Alles? Nein, es wäre noch anzufügen, dass mich das Zähneputzen mit dem Wasser aus dem Tank in der Toilette noch 14 Tage später mit Entzündungen und Zahnfleischbluten daran erinnerte, dass man so etwas nicht machen soll. Ich schlief auch wenig in der Nacht, denn noch lange schwärmten meine Reisegenossen von der ganz anders verlaufenen Hinfahrt. Da gab es einen Speisewagen mit billigem Wodka und mit Leber, die hervorragend war. Die Hitze hatten sie so gar nicht gespürt, vielmehr hätten sie schon nach kurzer Zeit lauter Leute gekannt, die mit ihnen Wodka trinken wollten. Ja, das kenne ich auch, habe es früher oft genug erlebt: Knoblauch und Speck, dicke Brote und getrockneten Fisch, dazu die Gerüche der Fußlappen und nassen Pelze, die immer lauteren Trinksprüche und das lustige Völkchen, das seine Reise genießt und an den schweren Kopf am Morgen aus irgendwelchen mir unerfindlichen Gründen nie zu denken scheint. Kenn ich. Brauche ich aber nicht mehr, schon gar nicht, wenn man auf einer Dienstreise nach durchzechter Nacht auf der Botschaft vorsprechen oder andere wichtige Dinge zu erledigen hat, um sich dann auf ebensolch eine Fahrt zurück zu begeben. Ich habe resigniert und fahre Auto. Apropos Auto! Habe ich schon von den Straßen erzählt? Aber das ist nun wieder ein neues Kapitel…

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