Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Dienstag, 30. September 2008

Lagerleben (I)

Sellin auf Rügen also. Schon nach einem kurzen Spaziergang am Strand bzw. durch den Ort ist klar: an Naturschönheiten und deutscher Landeskunde im Allgemeinen ist hier niemand interessiert. "In Czernowitz war alles besser. Hier gibt es keine Diskos, nur alte Leute, und man kann nicht shoppen gehen!" - so Julia oder Anja, ich weiß es nicht mehr. Irgendwo ist da ja auch was dran, denke ich, und versuche das Lagerleben zu retten. Zunächst verdonnern wir also unsere "lieben Kleinen" in allem, was die Lagerordnung anbelangt, beschließen aber, es mit der Kontrolle und Durchsetzung nicht allzu genau zu nehmen. Sollen sie wenigstens abends und nachts ihren Spaß haben! Den Wodka allerdings zogen wir ein und nach Möglichkeit sahen wir zu, dass niemand in den Genuss kam, den fehlenden Nachtschlaf am Tag nachzuholen. Das zeigte zunächst auch Wirkung und wir, also Stefan Koeck (Medienpädagoge/ Stralsund), Michael Petrowitz (Drehbuchautor/ Berlin) und ich (arbeits- und einkommenslos), versuchten überdies, die Gestaltung der Nächte ein bisschen mit in die Hand zu bekommen. Das klappte, solange wir allein waren, ganz gut, vor allem der spontan- verrückten Ideen wegen, die Stefan so hatte. Eines Abends beispielsweise drehte er seine Musik am Computer so laut es ging, schaltete das Schaubild des Mediaplayers zu und warf die Zufallsgrafiken per Beamer an die Wand des gegenüberliegenden Bungalows. Bald waren alle draußen. Michael führte unermüdlich seine Schattenspiele vor, die Jugendlichen lachten und kabbelten sich bis zum Ende der nächtlichen "Veranstaltung". Was sie danach noch machten, wer wollte es wissen? Wichtig war nur, dass wir es nicht zu sehen und alle keine negativen Folgen zu spüren bekamen. Dennoch war mir zeitweilig recht mulmig zumute, vor allem, als ich durch Zufall Fotos sah, die des Nachts mit dem Handy am Strand aufgenommen worden waren. Gegen die Nacktheit schöner Mädchen ist wenig zu sagen, wenn diese sich halt ansehen lassen wollen, gegen das nächtliche Baden sollte ich allerdings was haben. Ob der Versuch, auf die "weiche Tour" an das Verantwortungsgefühl zu appelieren, gefruchtet hat. Ich wage es zu beweifeln.

Blieben die Tage. Zunächst konnten wir nicht klagen. Es regnete, aber man beschäftigte sich im Tischtennisraum, am Billardtisch oder im Internet. Vor der Arbeit drückte sich niemand, ganz im Gegenteil. Wir waren ja hier, um aus ca. 18h Videomaterial, das wir im März in Chernivci abgedreht hatten, einen Film zu machen. Alle wollten das Ergebnis und so wurden die Übersetzungen in Null- Komma- Nix fertig, die Untertitel tippten meherer Teams im Akkord und auch im Schneideraum maulte keiner über stundenlange Sitzungen, in denen die Ukrainer Stefan die Einsätze in den ukrainischsprachigen Interviews weisen mussten. Aber es waren nicht immer alle beschäftigt und so zahlte ich aus meiner Tasche die Gruppenfahrscheine nach Bergen, damit auch shopping möglich würde. Gut, ich habe nicht laut gesagt, dass es mich 150 Euro kostete und eigentlich erwartete ich auch keinen Dank, aber ganz ohne Frustration habe ich dennoch nicht mit anhören könne, wie das miese Angebot in Bergen kritisiert wurde. Das war also auch nichts, obwohl sie alle hin fuhren und mit Kinkerlitzchen aus dem 1- Euro- Laden bepackt wiederkamen. Ja klar, gegen die glitzernden Konsumtempel, die seit zwei Jahren in Czernowitz für Weltstadtflair sorgen, kommen die Provinzshops in Bergen natürlich nicht an. Das sind eben so die neuen Maßstäbe einer Generation, die Anstehen und Konsumgütermangel nur aus Erzählungen kennt, die damit verbundenen (wahn- und zwanghaften) Ersatzhandlungen ihrer ebenfalls kaufsüchtigen Eltern aber als selbstverständlichen Lebensinhalt übernommen hat. Und ich? Regte sich pädagogisches Gewissen? Ja, es regte sich! Aber ich sah auch dieses Funkeln in den Augen und dachte bei mir, es würde dieses eine Mal schon nicht so schlimm sein. Warum mit Windmühlen kämpfen? Doch es wurde schlimm. Aber das passierte später.

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