Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Freitag, 1. März 2013

Jugend, Moral und Geschichte

"Die Zerstörung der Vergangenheit, oder vielmehr die jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts. Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jede organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt." (Eric Hobsbwam, Das Zeitalter der Extreme, S. 17)

Soweit so gut. Welche im Bildungsbereich wo auch immer tätige Kollegin, welcher Kollege würde da widersprechen? Eine andere Frage ist, ob auch jeder Hobsbawms Begründung teilen würde. Ich teile sie, erklärt sie doch auch das hier schon apostrophierte Fehlen von "Ordnung, Sauberkeit, Fleiß und Ausdauer" der neuen Schülergenerationen: Hatte nämlich "der Kapitalismus" anfangs noch das feudale Erbe selektiv für sich genutzt, so verabschiedete er sich mit der Durchsetzung eines spätestens von Wilhelm Hauff (Das kalte Herz, 1824) an von allen Autoren von Rang kritisch verfolgten, freilich im Wesen der neuen Gesellschaft angelegten "radikal- experimentellen Individualismus" (Daniel Bell, 1970) von den einst so hoch gepriesenen und nicht ganz umsonst auch als "typisch deutsch" apostrophierten Sekundärtugenden. Dazu Hobsbawm:


"Denn die wirksamste Art und Weise, eine auf Privatunternehmen basierende Industriewirtschaft aufzubauen, ist, sie mit Motivationen zu verknüpfen, die nichts mit der Logik des freien Marktes zu tun haben - also beispielsweise mit der protestantischen Ethik; mit dem Verzicht auf unmittelbar eintretenden Erfolg; mit dem Ethos der harten Arbeit; mit familiärem Pflichtgefühl und Vertrauen, aber gewiss nicht mit der antinomischen Rebellion von Individuen." (ebd. S. 32)

Und mit eben dieser antinomischen, gleichwohl bewusstlosen "Rebellion", die nur ein Dagegen, aber kein Wofür mehr kennt, haben wir es heute zu tun.Warum? Weil "Marx und die anderen Propheten der Zerstörung aller alten Werte und sozialen Beziehungen [...] recht hatten. Der Kapitalismus war die Kraft der permanenten, ununterbrochenen Revolution. Logischerweise mußte er auch jene Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit zerstören, die für seine eigene Entwicklung notwendig und vielleicht sogar entscheidend gewesen waren...  Am Ende dieses Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit (auch die Vergangenheit der Gegenwart) keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Eine Welt, in der wir nicht mehr wissen können, wohin unsere Reise führt, ja nicht einmal, wohin sie uns führen soll." (ebd.).

Wie können Lehrer also etwas beklagen, dem sie selbst hilflos gegenüber stehen? "Wozu soll ich lernen? Wofür?" - fragt der Schüler. "Weil es immer so war" - antwortet der Lehrer und schweigt beschämt. Hatte er nicht ein paar Minuten früher u.U. erklärt, warum eine Karriere in der Automonilindustrie die Natur zerstört, warum eine erfolgreiche Ingenieurlaufbahn in der Rüstungsindustrie enden wird, warum soziales Engagement schlecht bezahlt wird und kein Prestige hat? Solange wir nicht wissen, wohin die Reise führen soll, können wir den Suchenden kein Kompass sein, lassen wir sie um sich selbst kreiseln, wie wir selbt meist um uns selbst kreiseln! Anders wäre es nur, wenn die Schule wieder ein Feld gemeinsamen Suchens von Lehrenden und Lernenden nach einer besseren Welt wird und nicht nur eine Anstalt zur Vermittlung von (im Leben nutzlosen) Spezialwissens, an dem nur Verwertungsgesellschaften Interesse haben. Und so kann auch DaF weder sich selbst genügen noch seine Existenzberechtigung darin sehen, der deutschen Industrie ausländische Köpfe zuzuführen. Haben wir das schon verstanden?

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