Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Montag, 13. Juni 2011

Radtour zum Petros

Um 07.45 Uhr kommt das Auto mit den drei Mountainbikes um die Ecke. Um 10.00 erreichen wir den Ausgangspunkt der "Reise" kurz vor Rakhiv, ein Gehöft, wo Sergej das Auto unterstellt. Was noch? Ach ja, da kommt ein Mann um die Ecke, wird als alter Bekannter begrüßt, und verkauft uns drei Billets zum "Studententrarif". Es ist immerhin eine Radwanderung im Naturschutzgebiet. Dann mal los Student!

Gegen 10.30 Uhr sind wir abmarschbereit und los geht es. 10 m auf der Straße, dann biegen wir auf einen steinigen Landweg, der geradewegs und zunächst nur sanft ansteigend in die Berge führt. Treten und treten und fluchen der vielen Steine wegen, die von Anfang an die A- Backen mächtig strapazieren. Trotz der Steigung kommen wir gut voran, "wir", das sind Jurij und ich. Sergej trainiert und ist schon lange nicht mehr zu sehen. Er wartet auf uns bei km 10. Man staune, es gibt eine Auszeichnung des Weges und Kilometermarkierungen. Bloß unten auf der Straße kein Hinweis. Wo die Billets kaufen? Keine Idee- auf unserem Bauernhof hätte ich nach Eiern gefragt oder nach Geflügel, aber nie nach den Eintrittskarten...

Auf Höhe von Kilometer 10 treffen wir den Bürgermeister des Ortes mit einer geländegängigen Suzuki. Er ist auf Inspektionsfahrt und kontrolliert wirklich unsere "Studenten- Billets". Macht nichts, er kennt den Verkäufer... Bisher lief alles gut, nur der Ar...h schmerzt mächtig. Dann geht es steil bergan. 10 % meint Jurij. Ich trete in der kleinsten Übersetzung und der Schweiß bricht aus. Treten und treten und treten. Jurij lobt mich, ich hätte das richtige Tempo und würde mich nicht gleich zu Anfang verausgaben. Ich muss grinsen: Schneller? Ich krieche schon auf dem Zahnfleisch! Jurij tröstet mich. Ich hätte das schlechteste Rad und er z.B. eine viel bessere Schaltung. Bei mir seien nur 28 Zähne auf dem Rad, er hätte 32. Ja, ja, er hat auch Oberschenkel wie ein Matador, während sich meine langsam aber sicher zusammenkrampfen. Es beginnt wirklich weh zu tun. Bloß keine Pause machen. Die gleichmäßige Bewegung ist noch am besten...

Ich trete und trete und trete und nehme kaum etwas von der Landschaft wahr. Wir sind schon hoch, unten in einer Schlucht rauscht ein Fluss, aber hingucken geht nicht. Der kleinste Stein, den ich übersehe, würde mich absteigen lassen. Langsam stelle ich fest, wie der Schub weniger wird. Das Rad bewegt sich nur noch wie durch ein Wunder vorwärts. Ein Stein, nicht aufgepasst, der Lenker stellt sich quer. Eigentlich kein Problem, Antritt und drüber. Antritt... Da kommt nichts mehr. Ich muss mit den Füßen auf den Boden. Pedale wieder hoch, rauf, weiter... Mann o Mann, kann man kraftlos sein! Ich schiebe einen Bonbon in den Mund, Tipp von Sergej. Klar, Traubenzucker wäre besser, seine Wirkung kennt man. Aber, oh Wunder, der Bonbon tut's auch. Irgendein Gefühl kehrt in die Muskeln zurück. Es geht doch weiter. Jurij macht Mut- nur noch 5 km, nur noch 3 km, nur noch 500 m... Ab und an greife ich zum Bonbon. Wirkt der Zucker? Ist es nur die Psychologie? Ich halte durch. Meter um Meter geht es vorwärts. Doch dann ist Schluss, Aus und Vorbei. Im linken Oberschenkel zieht es, krampft, der Krampf löst sich nicht mehr. Wir sehen Sergej bereits mit Feuer machen beschäftigt, als ich aufgeben muss. Buchstäblich die letzten 30 m schiebe ich das Rad. Am Wegrand eine Quelle. Das Wasser schmeckt köstlich- ein wenig eisenhaltig, scheint mir. Nur noch 200 m bis zum Gipfel, meint Jurij, dann sind wir 18 km bergauf gefahren und werden auf ca. 1600 m sein!

Essen! Das Feuer geht schwer an, alles ist nass. Aber Sergej ist Profi. Wir sammeln kleine Äste, blasen und blasen, dann endlich kommen die Würstchen auf die Grillplatte. Jurij kocht Tee. Brot, Tomaten, Käse, Grillwürste - wir leeren meine kleine aus Ungarn mitgebrachte Flasche "Unicum" (Kräuterlikör). Das ist wie Doping meint Jurij, ich zweifle. Noch 200m bergauf und dann ist von 45 km zurück die Rede... Ich steige ächzend auf das Rad, ist das noch ein Hinterteil oder bloß noch eine Wunde? Aber, o Wunder, nichts krampft, nach 5 min sitze ich ruhig im Sattel und nach ein paar Minuten sind wir "oben". Unterhalb des Gipfels vom Petros eine Schutzhütte. Zugemüllt und kaputt- leider. Letztes Jahr war noch alles neu und heil, meint Jurij. Wir treffen den Bürgermeister wieder. Das wird vor Saisonbeginn gemacht, verspricht er. Noch ein paar Meter und wir sind auf einem Bergrücken. Oben eine Gruppe Wanderer. Sie kommen aus dem Lviver Gebiet und wollen noch zum Pip Iwan im rumänischen Grenzgebiet. Der mächtige Berg ist von hier aus am Horizont zu erkennen. Der Weg geht nun fast ohne größere Niveauunterschiede immer am Bergrand entlang. Man kann hier weiter zum Pip Iwan (Pope Johannes) oder zum Hoverla, dem höchsten Berg der Ukraine. Wir schlagen die Richtung zum Hoverla ein. Sergej sprintet davon, ich "rase" mit Jurij hinterher. Aber, was ist das? Sergej steht am Wegrand und hat eine gerissene Kette in der Hand. "Fahr du langsam voraus", meint Jurij, "wir müssen erst reparieren." O Danke! Ich radle nun wie ein echter Rad- "Wanderer" den Weg entlang und genieße die herrliche Sicht in die Berge. Ab und an kommen nun Wanderer des Wegs. Immer hält man an, begrüßt sich, fragt nach dem Wohin und Woher. Es ist eine freundliche Atmosphäre dort oben. Ganz anders als "unten", wo die gestressten Menschen eher zu oft alles andere als nett sind. Es geht bergab. Soll ich weiter? Was, wenn Jurij die Kette nicht flicken kann? Dann muss ich den Berg wieder hoch! Nein, ich warte, fühle mich aber merkwürdig erholt. Kein Ziehen mehr in den Beinen, alles ok.

Jurij und Sergej kommen und hui geht es den Berg hinab. 28 km werden wir nun in Serpentinen hinunter fahren. Der Weg durch den Wald ist schmierig, überall Pfützen, dazu die Steine. Ich sehe schon bald aus wie ein Schwein. Die anfängliche Freude über die schnelle "Kilometerfresserei" vergeht. Stehe ich auf einem Bein im Pedal, krampft es wieder. Das Kreuz tut weh, der Schulterfürtel schmerzt. Langsam verliere ich das Gefühl in der Hand. Auf die Unterarme wirken die Stöße immer härter. Ein Stein, eine Delle, eine Traktorenspur, ich müsste aus dem Sattel, aber schwer sitzt der Schreibtischkörper auf dem schmalen Sitz. Es schmerzt schon wieder gewltig, wenn ich wieder mal einem Stein nicht ausweichen konnte. Dabei saust der Wind in den Ohren. Der Langsamste bin ich dieses Mal aber nicht. Sergej hat mächtig Respekt vor der Abfahrt. Als Jurij davon schießt, meinte er nur: "Ich hab Frau und Kinder und bin der einzige Ernährer." Zumindest fühle ich mich nun nicht mehr als Bremsklotz. Aber der Weg nimmt kein Ende. Ab und an müssen wir absteigen und die Räder schieben oder tragen, weil die Spuren der Fahrzeuge den Weg unpassierbar gemacht haben. Hat das alles ein Ende? Es hat. Irgendwann lichtet sich der Wald, die Neigung lässt nach, der Weg wird besser. Wir sind fast "unten".

An einem Flüsschen waschen wir die Räder. Ich staune. Meine Butterbrote gehen weg; die beiden Kameraden haben Hunger und selbst nichts mehr mit. Aha, sie haben wohl doch viel länger als geplant gebraucht. Meinetwegen? Bis zum Essplatz, meint Sergej, fährt er sonst 1,50 h. Ich hätte 2,30 h gebraucht. Naja. Am Berg war ich dann wegen der Kette kein Hindernis mehr, bergab auch nicht. Wie weit es nun noch sei? Ach, nur noch 15 km auf Asphalt. "Nur noch" 15 km...

Beim Aufsteigen schmerzt wieder das Hinterteil. Aber die Beine treten gut. Jurij bleibt bei mir, aber schnell lege ich die höchste Übersetzung auf und trample fleißig Sergej hinterher. Wir schaffen Kilometer um Kilometer und ich bin erstaunt, wie schnell Beinmuskulatur sich erholt. Inzwischen fahren Sergej und Jurij ein paar Meter vor mir, schwitzen wie ich, aber ich lasse nicht abreißen. Wann sind wir am Ziel? Jetzt, nein, noch ein Dorf und noch eins. Ja, an dieser Kirche sind wir heute morgen vorbei. Es zieht sich. Dann tritt Sergej an, Jurij hinterher. Aha, Endspurt. Mich packt der Ehrgeiz, ich gehe aus dem Sattel, nehme Fahrt auf, trete so schnell ich kann. Kraft ist erstaunlicherweise da, nur fehlen mir jetzt die 4 Zähne der Übersetzung. Ich schaffe es immerhin, den Sichtkontakt nicht zu verlieren. Vielleicht 1 min nach dem Sieger der Wettfahrt, knapp Sergej vor Jurij, schnaufe ich in den Hof. Man klopft mir herzlich auf die Schulter. "Du bist ein Held", sagt Jurij, "you are a hero", sagt Sergej. Es ist 21.00 Uhr und exakt 68 km liegen hinter uns. Um 23.00 Uhr sind wir in Ivano. Mein Ar...h tut weh, sonst geht es mir gut. Nach traumlosem Schlaf erwache ich heute morgen. Alles ist ok, bloß irgendsoein "Polster" dort, wo das Hinterteil auf dem Stuhl sitzt, erinnert an den gestrigen Tag. Danke Jurij, danke Sergej! Das war einfach nur super!

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