Reisebilder aus der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Osteuropa. Reflexionen zum Alltag, Reiseberichte, Kurioses und Interessantes vom Zusammenleben der Völker, Privates für Freunde und Bekannte...

Samstag, 19. September 2015

Hansestadt Tallin

Wir wohnten in Tallin in unmittelbarer Nähe zum Zentrum, fanden aber das "bayrische Ambiente" nicht ganz angemessen. Ich hatte glatt übersehen wie das Hotel hieß. Warum ist es immer die Hauptstadt Bayerns, warum sind es immer "Oktoberfest" und "Paulaner", die "Deutschland" sogar dann noch repräsentieren, wenn man als Stadtkommune jahrhundertealte Beziehungen z.B. zu Hamburg und anderen deutschen Hansestädten hat? Und welch stolze Tradition! Die beinahe vollständig erhaltenen Stadtmauern (Bild oben) künden von Reichtum und Macht einer Stadt, die wenigstens im Souvenirladen u.a. auch an meine kleine Heimatstadt, die Hansestadt Wismar, erinnert. (Bild zwei zeigt das Wismarer Wappen!) ;-)

Anders als in Riga stellte sich in Tallin allerdings kein "Heimatgefühl" ein. Das liegt am fast vollständigen Fehlen von Elementen der Backsteingotik. Die Stadt ist - bis auf die Dächer - nicht rot, sondern muschelkalk- weiß. Das sieht man sehr schön an einem der ältesten der bedeutenden Baudenkmäler des Zentrums, dem Hanse- Haus. (Bild drei) Außen wie innen ist es historisch gestaltet und sogar draußen sitzt man abends noch ganz stilecht unter brennenden Fackeln. Uns war es aber etwas zu touristisch (und wohl auch zu teuer), so dass wir unter dem offenen Feuer nicht Platz nahmen. Stattdessen fanden wir ein nettes russisches Restaurant, das neben dem preiswerten und schmackhaften Essen einen unendlich schönen Blick auf eine oft menschenleere Gasse direkt hinter der Stadtmauer zu bieten hatte.

Aber Tallin bietet nicht nur eine perfekt erhaltene und gut restaurierte Altstadt mit deutsch- baltischen Elementen, sondern auch viele Monumente der russischen Zeit. Neben einigen russischen Kirchen ist der Schloss- und Parkkomplex sehenswert, der auf Peter I. zurückgeht. (Bild vier) Wir wollten aber das Meer sehen, das man etwas außerhalb der Stadt am besten genießen kann. Man sieht nicht nur die Silhouette der Stadt (Bild fünf), sondern staunt auch über die große Zahl moderner Fähren, die bald im 15- Minuten- Takt den Hafen ansteuern oder verlassen und die einen großen Bogen steuern, um das offene Fahrwasser zu erreichen.

Sollten wir nach Narva fahren? Wir entschieden uns, lieber diese herrliche Stadt noch einmal zu genießen und bleiben auch am zweiten Tag in der Altstadt. Es gab einfach zu viel zu entdecken! Obwohl es z.B. keine Hinweise gab, was sich hinter der geheimnisvoll und altehrwürdig aussehenden Tür in einem alten Haus hinter der Mauer (ganz in der Nähe des russischen Restaurants) verbirgt, fanden wir nach dem Eintritt die ukrainisch- orthodoxe Kirche der Stadt! (Bild sechs) Darauf wiesen neben dem Ikonostas (Bild sieben) die vielen Hinweise auf den Kampf um die ATO hin; es gab sogar das schwarz geschmückte Bild eines jungen Mannes, der bei den Kämpfen getötet wurde. Mag sein, er (oder seine Familie) waren bzw. sind aus Tallin oder sind jetzt erst zugezogen. Warum duckt sich die Kirche so heimlich hinter die Mauer? Das Ukrainische sollte populärer als das Russische sein! Hm, Russisch ist jedenfalls in den Straßen von Tallin oft zu hören und man hat nicht das Gefühl, es mit einer diskriminierten Sprache/ Minderheit zu tun zu haben. Aber Gefühle können natürlich auch täuschen....

Auch sonst gibt es viele alte und schöne Kirchen. In einer (Bild acht) fanden wir das neu und mit einer Tafel in Deutsch und Estnisch auffällig gestaltete Grab des Balthasar Rüssow. Uta kannte den Mann aus einem historischen Roman und wunderte sich, eine historische Persönlichkeit vor sich zu haben; ich schämte mich, da ich in alten Chroniken von Rüssow gelesen und den Autor dennoch vergessen hatte. Unweit von uns stand eine Este, der an einem Stand Kirchenmaterial und Stadtführer etc. anbot. Er freute sich sichtlich, dass Brüssows Grab die Aufmerksamkeit deutscher Touristen gefunden hat! Sonst ist mir der Wappenschmuck (Epitaphien) der Kirchen in besonderer Erinnerung geblieben. So viele sah ich nie an einem Ort! Der gesamte preußische Adel schien vertreten; dazu viele Familien, die aus der russischen Geschichte bekannt sind. In St. Marien fanden wir z.B. das Grab von Krusenstern, dessen Name heute über einen russischen Segler, die "Krusenstern" eben, immer noch populär ist.

Wir "fanden" eine Grablege? Ja, denn obwohl Uta immer mal wieder aus dem Rieseführer die wichtigsten Eckdaten der Geschichte rauskramte, ließen wir uns ansonsten treiben. Wozu ist Vollständigkeit gut? Was bedeutet es "alles gesehen zu haben"? Was ist ALLES? Finden ohne zu suchen und auslassen, was sich nicht ohne Weiteres finden lässt... - das kann auch eine Methode sein, Urlaub in fremden Städte zu genießen. Mich hat der Bildungsterrorismus von Reiseführern und Stadtbilderklärern immer schon genervt. Nicht Wissen will ich mitnehmen, sondern Eindrücke; das Gefühl DA gewesen zu sein und es genossen zu haben reicht vollkommen. Den Rest kann man zu Hause nachlesen oder es eben auch lassen. Was mich nicht unmittelbar berührt, brauche ich - zumindest im Urlaub - nicht wirklich.   

Und so streiften wir wieder und wieder durch die Stadt, tranken hier und da einen Kaffee, aßen zu Mittag in der geliebten alten Straße, entzifferten Wappenschilder und Inschriften und lasen die vielen historischen Informationen, die auf Glastafeln an allen möglichen wichtigen Gebäuden angebracht waren. So entging uns nicht, in welchem Haus Dostojewski einst wohnte; wir fanden Adelssitze und Konsulatsgebäude und was so eine alte Stadt sonst noch zu bieten hat. Natürlich das Rathaus (Bild neuen) und eben alte schöne Giebelhäuser. (Bild zehn)

Lustig eine Hinterhofgasse, auf der wichtige Etappen der estnischen Geschichte in Form von Tafeln, die in den Gehweg eingelassen sind, dokumentiert werden. Von nationalem Optimismus zeugt die letzte Tafel mit der Jahreszahl 2418, die das Datum des 500. Geburtstages des estnischen Staates anzeigt. Hm, bis dahin sind die "Zwischenspiele" der Sowjetzeit vielleicht wirklich vergessen. Aber wie dem auch sei. Wir hatten und haben nichts dagegen, dem jungen Staat eine lange friedliche Geschichte und den Esten noch viele Erfindungen a la skype und Erfolge wie "überall kostenloses W- LAN" zu gönnen. In letzterer Hinsicht sind sie ja Vorbild für den Rest von Europa inklusive der Telekommunikations- Wüstenei Deutschland. ;-) War Tallin der Höhepunkt unserer Reise? Uneingeschränkt JA!

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